Lange hatte der Ältestenrat überlegt, ob das diesjährige Treffen zur Walpurgisnacht stattfinden könnte – natürlich nur unter den üblichen Hygienevorschriften. Sie hatten vorher extra mit einem Virologen über die Ansteckungsgefahr beraten und schließlich einen Kompromiss gefunden. Wenn die Inzidenz sich auf dem aktuellen Stand hielt, würden die Hexen tanzen.

Als Minza die Nachricht erreichte, hatte sie vor Freude beinahe ihren Raben erwürgt. Jetzt zwei Wochen später war Krah noch immer etwas empfindlich. Ständig rückte er ab, sobald sie sich in der kleinen Hexenhütte zu Nahe kamen – was beim Packen unvermeidlich war. Schließlich wurde Minza das ganze Geflatter zu viel. „Raus mit dir, du undankbares Federvieh“, raunzte sie und scheuchte ihn mit erhobenen Armen aus dem Fenster. Mit einem letzten beleidigten „Krah“ flog ihr sonst so treuer Gefährte über den Kräutergarten hinweg und verschwand im Birkenwald.

Mit dem eingeschnappten Vogel würde sich Minza später beschäftigen. Sie atmete tief durch, wahrscheinlich musste sie das Fenster für ihn offen stehen lassen. Sie hoffte nur, dass es nicht regnen würde. Doch der Besen musste noch mit Hexensalbe poliert werden und ein paar Tinkturen wollte sie zum Tauschen mitbringen. Sie rieb sich die schwieligen Hände. Heute Abend ging es nach Thale und dann wollte sie wieder gemeinsam mit den anderen Teufelsweibern zum Brocken fliegen.

Wie hatte sie das im letzten Jahr vermisst! Zur letzten Walpurgisnacht hatten die Ältesten eine Zoom-Konferenz veranstaltet, dabei konnten die wenigsten von ihnen mit dem Computer umgehen. Minza war vertrauter mit der Technik, aber sie bekam viele Warzen in Nahaufnahme zu sehen. Mehrfach wies sie darauf hin, etwas Abstand zur Kamera zu halten. Der Tanz war auch nur ein müder Abklatsch. Jede Hexe konnte nur allein zu Hause um ein Windlicht tanzen. Es war einfach nicht das Gleiche.

Aber dieses Mal stand dem Hexentanz nichts mehr im Weg. Es würde wieder ein großes, reinigendes Feuer geben. Angst vor einer Ansteckung hatte Minza keine. Sie war bereits vor Monaten geimpft worden. Mit ihren 120 Jahren gehörte sie schließlich zur Risikogruppe. Ihrer Meinung nach hätten Hexen sowieso eine Sonderbehandlung verdient. Doch obwohl Walburga persönlich im Bundestag vorstellig wurde, wurde ihr Antrag auf Sonderrechte einfach abgelehnt. „Alles Quacksalber“, schimpfte sie vor sich hin. Doch die schlechte Laune war schnell verflogen, denn es war alles fertig. Sie schwang sich auf ihren Besen und machte sich auf in den Harz.

Zwei Stunden später landete sie mit steifen Gliedern unsanft auf einer Wiese. Uff. Sie lockerte ihre Arme und Beine und ging zum Hauptplatz. Obwohl es schon dämmerte, gehörte sie zu den Ersten. Nur eine Handvoll Frauen standen dort in lockerer Runde. Minza ging mit kräftigen Schritten auf ihre Freundin Brunge zu und knuffte sie in den Arm: „Na, du alte Vettel?“

Erschrocken rückte Brunge weg, um einen Abstand zwischen sich zu bringen und setzte schnell eine kunstvoll geschnitzte Maske auf. Ohne ein Wort der Begrüßung raunte sie nur: „Du musst dir auch eine nehmen. Die sind in diesem Jahr Pflicht.“

Minza folgte der Geste zu einem provisorisch aufgebauten Tisch und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Darauf lagen die zeremoniellen Holzmasken. Teufelsgesichter, Schweineköpfe, Froschfratzen: Sie waren wunderschön ausgearbeitet. Minza setzte sich eine Holzmaske auf und schon wurde ihr Gesicht mit einem spitzen Schnabel und einem Federkranz verdeckt. Damit konnte sie dem glänzenden Federkleid von Krah fast Konkurrenz machen. Sie dachte gerade darüber nach, was sie dem Vogel zur Versöhnung mitbringen konnte, da merkte Minza, das sie etwas störte.

Sie nahm die Maske herunter, erst jetzt fiel ihr auf, dass ein Mundschutz eingearbeitet war. Fragend sah sie Brunge an. „Maskenpflicht“, wiederholte diese stur. Achselzuckend setzte Minza die Maske auf und wunderte sich über das Verhalten ihrer Freundin. Sie konnte sie nicht mehr darauf ansprechen, denn schon ging ein Ruck durch die Gruppe.

Nach und nach bestiegen die Hexen ihre Besen und flogen los. Der gemeinsame Flug zum Brocken begann. Es war stiller als sonst. Die schrillen Schreie trafen nur gedämpft auf ihre Ohren und kaum eine Hexe lachte. Minza stieß sich ab und schnellte in den Himmel. Gekonnt lenkte sie mit einer Hand den Besen, um mit der anderen die Maske aus dem Gesicht zu schieben. Die Geschwindigkeit drückte ihr die Luft ab und Tränen schossen in ihre Augen. Lächelnd blinzelte sie sie weg und atmete tief die frische Bergluft ein. Auch ihr Schrei fiel leiser aus als sonst, doch er kam noch immer aus tiefstem Herzen. So schmeckte Freiheit.

In geübter Formation – auch wenn diese einige Lücken aufwies – landeten sie endlich auf dem Tanzplatz. Minza wusste genau, dass man auch hier die Pandemie nicht vergessen konnte. Riesige Plakate mahnten: „Fluchen im Singsang verboten“; „Beim Tanzen immer eine besenlänge Abstand“. Außerdem bekam jede Hexe einen Maßnahmenplan in die Hand gedrückt. Besonders Schade fand Minza, dass sie dem Teufel dieses Jahr nicht den Hintern küssen durften.

Unter dem bösen Blick einer hochgewachsenen Hexe mit Froschfratze setzte sie schnell die Maske wieder auf und ging zur großen Feuerstelle. Gerade noch rechtzeitig sah sie, wie Walburga mit einem gemurmelten Fluch eine Fackel entzündete. „Willkommen Schwestern. Wie ich sehe, sind einige dem Ruf unseres Herrn gefolgt.“ Sie besah die lichten Reihen und verkniff den Mund. „Wir wollen uns nicht lange mit Reden aufhalten. Nur so viel: Tanzt und ehrt unseren Meister so gut es geht. Aber denkt an die Maßnahmen, sonst greift das Ordnungsamt ein.“ Ein vernichtender Blick huschte zum Rand des Tanzplatzes. Nur das winzige Glühen einer Zigarettenspitze verriet Minza, welche Auflagen bisher verschwiegen wurden.

Bevor Minza weiter nachdachte, ergriff sie das Wort. „Das reicht“, schrie sie in die Menge. Mit stampfenden Füßen stimmten ihr die Hexen zu. „Ich kann die Vorsicht ja verstehen“, räumte sie ein und einige Füße verstummten. Doch noch immer stampfte die Mehrheit der Teufelsbrut zur Unterstützung.

„Wir müssen es wagen“, sagte sie und die fragenden Blicke der anderen trafen sie mit Wucht.

„Auch, wenn es alles von uns abverlangt, müssen wir es wagen. Niemand von uns will wirklich eine“, Minza malte Gänsefüßchen in die Luft, „‚gute Tat‘ vollbringen.“ Ein Raunen ging durch die Runde und die von Stofffetzen durchwirkten Kleider raschelten als wenn ein Wind durch sie gefahren wäre. Die Teufelsweiber waren sichtlich angewidert. Einige spuckten aus, andere fluchten lauthals.
„Ich weiß“, versuchte sie sich Gehör zu verschaffen und rief lauter, „aber wir können so nicht weitermachen. Nicht mal ein Drittel von uns ist heute hier. Niemand traut sich, frei zu tanzen. Und das trotz Impfung. Wir kommen nicht umhin! Wir müssen das Ritual wiederholen, dass schon unsere Vormütter in großer Not getanzt haben. Die Bedingungen sind ideal. Der Mond scheint weiß, wie alte Knochen, der Teufel schenkt uns heute sein Gehör und es ist verdammt nochmal Walpurgis-Nacht. Wann, wenn nicht heute sollten wir ein Zeichen setzen und diese sieben Mal verfluchte Pandemie beenden?“ Drei Sekunden herrschte Stille. Dann brach Jubel los. Selbst Walburga nickte knapp.

Sie warf die Fackel auf den Scheiterhaufen und sofort roch es nach Kohle und Schwefel. In den Flammen schienen kleine Dämonen zu tanzen, die über sich hinauswuchsen bis das Feuer an allen Scheiten nagte. Geschäftig rafften die Teufelsweiber Kräuter, Knochen und eingeweckte Eingeweide zusammen. Sie würden heute noch vieles in die Flammen werfen. Minza kannte das Ritual, doch zu ihren Lebzeiten hatte sie noch nie daran teilgenommen. Dennoch übernahm sie die Führung und Walburga unterstützte sie darin. Ihre Energie war genau die richtige dafür. Sie stellte sich vor das Feuer, das von den Hexen umringt wurde und rief.

„Rückt näher Schwestern. Horcht gut her.

Die Qual ist hoch, die Zeiten schwer.

Das alte Leid soll nun vergehen,
Die Welt, sie muss sich weiterdrehen.

Aufbruch ist das Wort der Stunde.

Hexen sammelt euch in großer Runde.

Oh Meister, höre unsere Bitte!

So ist es Brauch, so ist es Sitte.

Wir wissen wann, wir wissen wie.

Zum Teufel mit der Pandemie!“

Im Chor schmetterte die Teufelsbrut die Wiederholung: „Zum Teufel mit der Pandemie!“

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